Vorsorge der Zukunft
Warum Vorsorge viel weiter gedacht werden muss und was die Wissenschaft hier leisten kann. Plus: Welche Rolle spielt die Künstliche Intelligenz (KI)?
DER ROUND-TABLE.
Wie Vorsorge für möglichst alle funktionieren kann, wurde im Garten des Wiener MOOONS-Hotel diskutiert: von Univ.-Prof. Dr. Anita Rieder, Vizerektorin für Lehre und Leiterin des Zentrums für Public Health an der MedUni Wien, Univ.-Prof. Dr. Alexandra Kautzky-Willer, Gendermedizinerin und Leiterin des Referenz-Zentrums für endokrine und Stoffwechselerkrankungen an der MedUni Wien, Univ.-Prof. Dr. Harald Kittler, Dermatologe und Künstliche- Intelligenz-Experte der MedUni Wien, sowie Gesundheitsökonom Dr. Thomas Czypionka vom Institut für Höhere Studien (IHS).
Geht es um Gesundheitsvorsorge, denken viele an die jährliche Vorsorgeuntersuchung – und das war es dann …
RIEDER: Dabei muss Vorsorge weiter gedacht werden. Sie ist ein aktiver Prozess. Der reicht von einem gesünderen Lebensstil der und des Einzelnen bis zur generellen Gestaltung eines gesünderen Lebensumfeldes für alle.
KAUTZKY-WILLER: Vorsorge beginnt im Mutterleib während der Schwangerschaft. Aber auch Väter müssen in die Pflicht genommen werden: Sie sollten ungesunde Ernährung und das Rauchen vermeiden. Denn beides beeinflusst den Nachwuchs negativ – etwa in puncto Adipositas und Diabetes.
RIEDER: Es geht auch u. a. um Gesundheitsförderung in Schulen, Kindergärten, am Arbeitsplatz, für chronisch Kranke und ältere Menschen sowie in der Stadtplanung – etwa durch Maßnahmen gegen Hitze.
KITTLER: Bei Vorsorge muss man sich fragen, was sinnvoll ist. Das interessiert die Zahlenden, die Leistungsempfängerinnen und -empfänger und die Politik. Da sind Reibungen in einem solidarischen Gesundheitssystem programmiert. Ein Beispiel: Manche Vorsorgeuntersuchungen machen nur für Risikogruppen Sinn. Das führt bei Ausgeschlossenen zu Unverständnis. Aber es kann nicht alles bezahlt werden!
Letztendlich geht es um die Finanzierung …
CZYPIONKA: Natürlich, aber wir kippen gern in die Maximum-Falle und schöpfen alles Mögliche aus. Das bringt wenig und kostet viel. In Österreich haben wir leider die Tendenz, viel anzureißen und insgesamt wenig Erfolg zu generieren. Besser wäre es, zuerst die Probleme der Masse anzugehen: etwa Alkohol, Rauchen und Adipositas. Es braucht insgesamt eine Langzeitstrategie. Zum Beispiel einen elektronischen Vorsorgepass, der Menschen mit Risiko an Impfungen und empfohlene Untersuchungen erinnert. Schweden ist uns in dieser Hinsicht um Lichtjahre voraus.
RIEDER: Weil gerade die Impfung angesprochen wurde, von der Covid-Impfung einmal abgesehen: Leider ist Österreich kein Impf-Land. Die RSV- und Masernfälle steigen. Bei der Grippe werden die Risiken einer Erkrankung heruntergespielt. Außerdem befinden wir uns in einer „Infodemie“: Wir sind konfrontiert mit einer Informationsflut, und es besteht eine deutliche Wissenschaftsskepsis. Für Laiinnen und Laien ist es kaum mehr möglich, die richtigen und wichtigen Gesundheitsinformationen herauszufiltern – auch aufgrund vieler Falschinformationen.
Was unterscheidet Frauen und Männer bei der Vorsorge?
Kautzky-Willer: Das weibliche Geschlecht hat biologisch gesundheitliche Vorteile und kümmert sich mehr um Prävention und Gesundheitsförderung. Dennoch haben Frauen anteilsmäßig sogar weniger gesunde Lebensjahre als Männer und ab der Pubertät eine höhere Krankheitslast. Es besteht also Verbesserungsbedarf, vor allem in der praktischen Umsetzung. Insgesamt nehmen aber noch immer viel zu wenige Menschen Vorsorge in Anspruch. Männer sterben häufiger vorzeitig, würden also von Risiko-Checks sehr profitieren.
RIEDER: Außerdem haben wir eine soziale Kluft. Die Zahl der gesunden Lebensjahre zeigt die Unterschiede. Vorsorge muss alle erreichen.
CZYPIONKA: Wir müssen Sprach-, Bildungs- und Altersbarrieren abbauen. Und nur digitale Informationen anzubieten ist eindeutig zu wenig: Viele Ältere suchen nicht aktiv auf Websites nach Information.
Braucht es neue Vorbilder?
CZYPIONKA: Wir benötigen Influencerinnen und Influencer, die vertrauenswürdige Informationen verbreiten. Doch derzeit verbreiten viele Accounts Unsinn. Zum Beispiel, dass Tomaten den Darm zerstören. Doch Followerinnen und Follower glauben das und nehmen auch gleich das angepriesene Gegenmittel. Wenn aber Fitness-Influencer beispielsweise verbreiten, dass Rauchen für schlechte Haut sorgt, könnte Prävention klappen.
KITTLER: Autoritäten brauchen Respekt. Doch der Staat hat nicht mehr die Informationshoheit, das Vertrauen in Institutionen ist gesunken. Ein großes Problem.
Reicht bei Vorsorge ein Appell an die Eigenverantwortung?
CZYPIONKA: Nein, es braucht Unterstützung. Nudging, also das Anstupsen von Menschen durch bestimmte Belohnungen, kann sinnvoll sein. Aber das darf nicht übertrieben werden.
RIEDER: Entscheidungen für mehr Gesundheit leichter zu machen – das ist ja Ziel des Nudgings –, da spricht grundsätzlich nichts dagegen und ist wichtig. Wenn der Staat aber nur in einer „alles lenkenden Vaterrolle“ gesehen wird oder nur als das umsorgende Kindermädchen der Bevölkerung, wäre das ein sehr einseitiger Zugang. Vorsorge für mehr Gesundheit ist nie ein passiver Vorgang. Daher muss die Gesundheitsbildung als wesentliches Element der Prävention gesehen werden.
Eigenverantwortung ja – aber immer unter der Voraussetzung, sich auch gut, seriös und niederschwellig informieren zu können?
KAUTZKY-WILLER: Freiheit ist wichtig: Informierte müssen die Möglichkeit haben, sich nach persönlicher Nutzen-Risiko-Abwägung auch aktiv gegen etwas zu entscheiden. Es wird nie jede bzw. jeder zur Vorsorge gehen.
CZYPIONKA: Die wenigsten lehnen Vorsorge aus Böswilligkeit ab. Viele haben Angst, sind überfordert. Daher macht es keinen Sinn, Alkohol, Schweinsbraten und Nikotin auf einmal zu verbieten. Cholesterin wie Blutdruck zu senken und zugleich Schritte zu zählen. Vorsorge muss lebbar sein. Wer Schweinsbraten liebt, soll ihn essen. Doch dafür mit dem Rauchen aufhören.
Helfen Gesundheitszentren bei der Vorsorge?
KAUTZKY-WILLER: Ja. Neben der Medizin braucht es die Psychologie, Ernährungsberatung etc.
Welche Rolle spielt KI?
KAUTZKY-WILLER: Künftig eine große!
KITTLER: … wenn wir sie als sinnvolles Werkzeug und neue Form der Datenanalyse sehen. Sie muss aber fair und transparent gestaltet werden.
Konkrete Einsatzgebiete der KI?
RIEDER: Die Zukunft baut auf Präzisions-Medizin: individuelle Medikation und individuelle Therapien. In Zukunft können wir mit KI und maschinellem Lernen Personen besser herausfiltern, die zwar keine familiäre Vorbelastung, aber trotzdem ein höheres Erkrankungsrisiko haben, zum Beispiel für Darmkrebs. Sie sollen in kürzeren Abständen zur Darmspiegelung, für andere gelten längere Intervalle. So könnten in Hinkunft beispielsweise Darmkrebs-, Mammografie- und Hautkrebs-Screenings noch differenzierter eingesetzt werden. Noch Zukunftsmusik.
KITTLER: Das Pankreas-Karzinom ist bislang schwer zu entdecken. Aber in einem bildgebenden Verfahren wie der Computertomografie ist es dank KI besser erkennbar. KI identifiziert Risikofakten besser und hilft bei der Analyse: Wer reagiert auf was?
KAUTZKY-WILLER: Damit können wir Medikamenten-Nebenwirkungen deutlich reduzieren.
Kann KI Pandemien prognostizieren?
RIEDER: Schnellere und präzisere Vorhersagen bei Infektionsgeschehen wären ein wichtiges Einsatzgebiet. Doch dafür braucht es viele, gute und vernetzte Echtzeitdaten.
KITTLER: Und da hapert es in Österreich gewaltig! Google weiß besser als wir, wann die nächste Grippewelle kommt. Wenn wir nicht unsere eigenen
Daten für bessere Prognosen verwenden, machen das große Tech-Firmen mit anderen Daten. Ein strategischer Fehler. Österreich ist aus Angst vor Datenmissbrauch sensibel.
CZYPIONKA: ELGA-Daten dürfen von der Wissenschaft aus Pseudo-Datenschutzgründen nicht verwendet werden. Dabei könnten sie die Gesundheitsversorgung verbessern und Behandlungsqualität erhöhen.
TEXT Karin Lehner
Fotos: Kati Bruder, Martin Biller / ÖGK